08 August 2010

Huhn oder Ei


Leider eine Situation, die in Strafprozessen nicht selten ist. Staatsanwaltschaft und/oder Gericht schieben alles auf die lange Bank, was man so schieben kann, um dann bei passender Gelegenheit den Betroffenen wegen angeblicher Verzögerungen zum Buhmann zu machen. So jetzt angeblich geschehen in einem Schwurgerichtsverfahren, in dem folgendes geschehen sein soll:
Seit Monaten sitzt der 22-Jährige in Haft. Er ist vorbestraft, hat schon Jugendstrafe verbüßt. Eine Frage wird sein, ob ein bislang ungelöstes Alkoholproblem zur erneuten Straftat geführt hat. Die Staatsanwaltschaft schließt seine verminderte Schuldfähigkeit nicht aus.
Ein Gutachten dazu steht noch aus. Vor seiner Aussage vor Gericht aber will der Angeklagte zunächst mit dem psychiatrischen Sachverständigen sprechen und das schriftliche Ergebnis abwarten, wie seine Verteidiger gestern mitteilen.
"Sie hatten lange genug Zeit, sich zu äußern", hat der Vorsitzende Richter wenig Verständnis für dieses Vorgehen.
Die Kammer beschließt: "Wir machen weiter wie geplant." Zwar könne der Angeklagte zwischenzeitig mit dem Sachverständigen sprechen. Doch soll dieser sein Gutachten erst am Ende der Beweisaufnahme, und zwar mündlich, erstatten.
Quelle: newsclick
Das mag in dem konkreten Verfahren alles völlig anders gewesen sein, so, wie es die Gerichtsreporterin verstanden hat, wäre es aber für Strafverfahren an deutschen Gerichten nicht untypisch.
Obwohl es sich den Gesamtumständen nach aufdrängt, wird entweder ein Gutachten viel zu spät in Auftrag gegeben, oder der Haus-und Hofgutachter wird nicht erinnert, weil der bekanntermaßen so viel zu tun hat, dass der eigentlich immer zu spät mit den Gutachten um die Ecke kommt. Anstatt solchen Verzögerern zunächst die Gelbe zu zeigen, und sie nach der nächsten Verzögerung konsequent und endgültig von der Liste der Gutachter zu schmeißen, werden die Angeklagten zum Buhmann gemacht, weil sie angeblich lange genug Zeit hatten, sich zu äußern.
Fragt man sich, wozu eigentlich, wenn ein entscheidender Punkt dessen, wozu man sich äußern könnte, wenn man denn wollte, fehlt, und, dass das Problem nicht eingetreten wäre, wenn das Gutachten frühzeitig in Auftrag gegeben worden wäre oder ein Gutachter, der monatelang auf dem Gutachtenauftrag sitzt, ersetzt worden wäre.
Außerdem vergessen die Richter oft gerne, dass ihre piefige Angefasstheit in solchen Situationen nicht vereinbar ist mit dem Recht des Angeklagten, zu schweigen, das auch das Recht umfasst, auszusagen, wann immer man will, und wenn es erst im letzten Wort ist, ohne dass daraus irgendwelche Schlüsse oder Vorwürfe hergeleitet werden dürfen. Jedes Gericht hat gefälligst damit zu leben, wenn eine Einlassung spät  kommt, das hat es hinzunehmen und nicht daran herumzumäkeln.

Ob es in diesem konkreten Fall so war, das sei wiederholt, weiß ich nicht, so, wie es die Gerichtsreporterin, die eigentlich die Feinheiten recht realistisch erfasst und beschreibt, aber schildert, ist es ein gutes - abstraktes - Beispiel für den Gerichtsalltag.

Resümee: In solchen Fällen ist der Angeklagte weder Huhn noch Ei!


DEIN RECHT IST MEIN JOB
STRAFJURIST, bundesweite Strafverteidigung
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10 Kommentare:

kj hat gesagt…

Das Problem für die Gerichte sind Gutachter die schnell arbeiten, aber auch kein Schrott abliefern.
Von den psychiatrischen Gutachen ist wahrscheinlich mindestens die Hälfte Murks, ausser die Rechnung.
Die einigermassen ordentlich arbeiten, die sind natürlich begehrt, dann tatsächlich überlastet. Mit der Richtigkeit der Gutachten setzten sich die Richter gar nicht gerne auseinander. Ist ja bequem die richterliche Verantwortung zu delegieren. Allerdings gibt es kaum einen Verteidiger, der sich mit so einem psychiatrisches Gutachten fachlich auseinander-setzt, obwohl das eigentlich auch nicht so schwierig ist.
So konnte in Sachsen der Postbote Postel über 50 psychiatrische Gerichtsgutachten schreiben, ohne das das seine Qualifikation von niemand bezweifelt wurde. Nach Meinung seiner richtigen Kollegen sei das den Gutachten aber bemerkbar gewesen. Denke das der Hausgutachter auch nicht immer für die Angeklagten geschrieben hat.
Er hat halt schnell geliefert.

Werner Siebers hat gesagt…

Natürlich darf es nicht dazu kommen, dass "schnell und schlecht" zum Regelfall wird. Und Verteidiger müssen natürlich sensibel sein bei der Überprüfung der Gutachten.

Aber diese grenzenlose Ruhe, die viele Richter haben, wenn ein Gutachten irgendwann mal in Auftrag gegeben wurde, muss auch mal unterbrochen werden.

kj hat gesagt…

Sie haben natürlich recht. Verstehe auch nicht, wie man die Bummelei akzeptieren kann, wenn jemand in Haft sitzt. Aber solch eine Ignoranz, das ist wohl eher Charaktersache.
Fragt sich nur, wie will man das ändern. Polizeistaat wird ja immer gefragter.

Anonym hat gesagt…

Der Angeklagte hat das Recht zu schweigen, aber mitnichten das Recht auszusagen, wann er will.
Und wenn die Einlassung um alle sonstigen Beweisergebnisse herumgebastelt wurde, muss das auch keiner glauben. Erst recht nicht, wenn die Einlassung erst am Ende der Beweisaufnahme kommt.

Nachdem sich RA Siebers schon früher dazu bekannt hatte, bei der Rechtslage Wunsch und Wirklichkeit nicht mehr trennen zu wollen, geht es nun munter weiter. Lasst uns kompetente Sachverständige backen, die nichts anderes zu tun haben, als in kürzester Zeit Gutachten zu erstellen. Es könnte sonst ein Rechtsverstoß drohen. Und wenn der Angeklagte nach schnellstmöglcher Vereinbarung eines Untersuchungstermins beim Sachverständigen dann lieber doch keine Angaben macht: Piefige Angefasstheit bei denen, die nicht immer die maximale Menge Geld im Strafprozess verbrennen wollen.

Werner Siebers hat gesagt…

Oh, einer von den Piefigen äußerst sich mal, und dann auch gleich noch angepisst. Angepisster Piefiger, das sind die besten Richter.

Gut, dass der BGH das schon immer anders sieht. So eins von vielen Beispielen BGH NStZ 1986, 370 (und viele weitere):

"Einem Angeklagten, der zunächst nicht zu einer Äußerung bereit war, muß jedenfalls dann auf Verlangen Gelegenheit zur Äußerung gegeben werden, wenn nichts für Rechtsmißbräuchlichkeit der anfänglichen Weigerung und für eine Unaufschiebbarkeit der weiteren Beweisaufnahme spricht."

Und die Frage, ob eine Einlassung geglaubt wird, ist ein völlig anderes Problem.

kj hat gesagt…

@annonym
ich finde es absurd, das sich der Angeklagte, um dessen Schuld es schliesslich geht, sich nicht laufend während der Verhandlung äußern oder Fragen an die Zeugen stellen darf, wenn das sachlich vorgetragen wird.

Soweit ich weiss, gibt es bei der Staatsanwaltschaft rote Sticker für Haftsachen und es wird erwartet, das die bevorzugt bearbeitet werden. Von einem Gerichtsgutachter würde ich auch erwarten, das er die bevorzugt bearbeitet oder den Auftrag ablehnt. wie man da überhaupt kompetente Gutachten bekommt, ist natürlich ein Problem.

Und wie soll der Angeklagte sich zu dem Gutachten können, das ihm nicht vorliegt.

Vielleicht sind meine Vorstellungen von Rechtsstaat ja naiv.

Anonym hat gesagt…

@kj
Ich weiß nicht, ob das naiv ist, wenn man nur die Hälfte verstanden hat.
Äußern kann sich der Angeklagte schon, aber in manchen Fällen dauert eine Einlassung mehrere Stunden. Muss man deswegen die Zeugen heimschicken, die 4 Stunden zum Termin gefahren sind?

Es gibt Sachverständige, die haben einfach keine Zeit. Die können den Auftrag nur ablehnen. Und so viele Sachverständige gibt es nicht, die gerne zu angepissten piefigen Richtern kommen. Auch wenn die Verteidiger noch so sympathisch sind.

Ansonsten habe ich davon geschrieben (oder es zumindest gemeint), dass der Angeklagte bei dem Untersuchungstermin beim Sachverständigen nichts sagt. Dann kann der Sachverständige manchmal kein Gutachten erstatten, etwa zur Frage der Schuldfähigkeit bei Substanzmittelabhängigkeit.

kj hat gesagt…

@annonym
nein, auch der Angeklagte muss sich an Regeln halten, lange Ausschweifen wären ja nicht sachlich. Hier wird es Angeklagten manchmal vom Richter verboten, etwas zu sagen, nur der Anwalt darf sich äußern. In einem Fall wollte ein manischer Angeklagter den Gutachter fragen, wie er eine Betreuung in der Vermögenssorge befürworten kann und dennoch Schuldfähigkeit beim Eingehungsbetrug annehmen kann.
Hätte eigentlich der Verteidiger drauf kommen können. Es gab eine mehrjährige Freiheitsstrafe.

Ich hatte tatsächlich angenommen, der Angeklagte wirkt beim Gutachter mit, sagt aber dann vor Gericht bis zum Gutachten nichts.

Das Problem kompetente und zügig arbeitende SV zu finden, sehe ich ja auch.

Was macht ein Gericht, wenn es die Schuld(unfähigkeit nicht feststellen kann, weil der Angeklagte nicht mitwirkt. Kenne mich da nicht aus.
Der Grundsatz im Zweifel für die Schuldunfähigkeit würde ich auch unpassend finden.

Anonym hat gesagt…

Hallo kj (Kritische Justiz?),
erfreulich, dass Sie auch nach einer Spitze unverdrossen in der Sache argumentieren.
Deswegen ein paar Richtigstellungen, sozusagen finaler Natur, bevor wir eine Brieffreundschaft anfangen (=letzter Post von mir):

Sie haben Recht: Der Angeklagte muss sich an Regeln halten. Allerdings gibt es einen Unterschied zwischen Sein und Sollen. Und für die
Frage der
Strafzumessung ist sowieso alles von Bedeutung. Faktisch (rechtstatsächlich) redet der Angeklagte so lange, wie er reden will.

Schuldfähigkeit hat nicht dieselben Voraussetzungen wie eine Betreuung im Bereich Vermögenssorge. Ist zwar irgendwie ähnlich, aber diese Ähnlichkeit taugt nur für Kneipengespräche, und da eigentlich auch erst ab dem sechsten Hefeweizen. Für den Juristen ist das Gesetz maßgeblich. Also einfach mal lesen.

Die Feststellung der Schuld richtet sich nach den selben Beweisregeln wie die Feststellung von Tatbestand und Rechtswidrigkeit (der klassische dreigliedrige Deliktsaufbau). Ist das Gericht nicht davon überzeugt, dass der Angeklagte die
Tat begangen hat, spricht es frei. Ist das Gericht nicht davon überzeugt, dass der Angeklagte schuldhaft gehandelt hat, spricht es frei. Das ist die spröde Schönheit der Juristerei, die von manchen erst nach 20 Semestern erkannt wird, von manchen auch niemals. Was aber auch nicht wirklich schlimm ist, weil man einfach trotzdem schwätzen kann und keiner merkt es.

PS: Es heipt nicht annonym.

kj hat gesagt…

@anonym
letzter Post.

So ähnlich, kritischer Jurist. Wer aneckt, muss auch kontra einstecken können.

Angeklagter darf reden um sich zu verteidigen, prozesstaktische Spielchen sprechen eher nicht für ein reuevolles zukünftiges gesetztestreues Verhalten. Denkt Richter, schreibt er aber anders.
Zu wenig gut arbeitende Sachverständige.

Betrug und Manische Erkrankung ist erst mal eine Frage des Vorsatzes.
Was nach 6 Weizenbier noch irgendwie zusammenhängend erscheint, das kann Gutachter nicht einfach so unerläutert lassen.

 

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